Die neue Eleganz -
der Modezeichner Gerd Grimm
Renaissance der Modezeichnung
(Dirk Schindelbeck)
Über Jahrzehnte hin schien sich die Modezeichnung als grafische Gebrauchskunst überlebt zu haben. Doch seit René Gruau (1909-2004), dem Grafiker Christian Diors, im Musee de la Mode et du Costume in Paris 1989 eine erste Retrospektive gewidmet wurde, ist das Interesse an ihr wieder kontinuierlich angestiegen. Die Ausstellung damals vermochte nicht nur erstmals Profil und Qualität eines Werbegrafikers einem größeren Publikum vor Augen zu führen, "sondern dokumentierte auch die Wertschätzung der Mode und ihrer Darstellung im Bild als Kunst." (Birgit Liesenklas) Heute kann man von einer kleinen Renaissance der Modegrafik sprechen.
Bereits in den neunziger Jahren tauchten auch wieder verstärkt Modegrafiken in Werbeanzeigen auf. Zwar wolle, wie Donald Schneider, Artdirector bei Paris Vogue, feststellte, das Publikum stets das reale Kleidungsstück sehen, wozu seit Jahrzehnten die Fotografie das adäquate Mittel zu sein schien: "Wenn es jedoch darum geht, eine Einstellung oder einen Stil auszudrücken, dann stellen Zeichnungen ein ebenso effektives Kommunikationsmittel dar. Und da es so lange vernachlässigt wurde, wirkt es nun frisch und unverbraucht, fast wie eine ‚neue Darstellungsart’".
Natürlich haben auch Modezeichnungen in erster Linie mit Kleidung zu tun, aber es geht dabei längst nicht nur um "Stoffe". Eine Modezeichnung fängt auch die Haltung, die Lebenseinstellung und die Stimmung ein, sei es ohne Hintergrund oder in einer betont modischen Umgebung oder einfach nur andeutungsweise. Eine Modezeichnung ist suggestiv, anregend. So verstanden, präsentiert sich Mode als romantische Fiktion, die uns verblüfft, verzaubert und verlockt, als visueller Luxus.
Ein Modezeichner aus Deutschland
Wie die Mode selbst ist auch die Modezeichnung ein internationales Phänomen, das im Umfeld der großen Modemetropolen wie Mailand, New York oder Paris gedeiht. Vor allem Paris mit seiner Haute Couture bot als genius loci dazu von jeher ideale Voraussetzungen. Und nur hier konnte René Gruau zusammen mit Christian Dior groß und bekannt werden.
Solche Rahmenbedingungen hatte ein Gerd Grimm nie, obwohl auch er als einer der Großen seines Faches gelten darf – neben George Lepape, Paul Iribe, Jean Patou oder Elsa Schiaparelli. Für den deutschen Sprachraum kann er sogar als singuläre Erscheinung gelten. Branchenkenner und Kollegen haben das stets erkannt. Schon 1951 schrieb Eberhard Hölscher in der Fachzeitschrift "Graphik", Grimm gehöre "zu jenen wenigen deutschen Gebrauchsgrafikern, die sich mit Sicherheit auf dem internationalen Parkett zu bewegen verstehen." Und die Modezeichnerin Gi Neuert bekannte: "Wir bewunderten seinen Strich, seine Eleganz und Leichtigkeit". Dennoch ist Gerd Grimm der breiteren Öffentlichkeit bis heute so gut wie unbekannt geblieben. Warum?
Uneitel und arbeitsbesessen
Die Antwort liegt einerseits in seiner Persönlichkeit und andererseits in der deutschen Misere des 20. Jahrhunderts. Gerd Grimm arbeitete wie ein Besessener, er zeichnete zehn Stunden am Tag, in jeder Lage, bei jeder Gelegenheit, und wenn er seine Motive aus dem laufenden Fernsehapparat bezog und als Karikatur – etwa von Politikern oder Schriftstellern - binnen Minuten auf ein Blatt hinwarf. Freunden erklärte er stets, er brauche das, um fit zu bleiben, seinen Strich zu behalten. Grimm produzierte unablässig, doch Grimm produzierte nie sich selbst. Uneitel und zurückgezogen lebte er mit seiner Frau, seinem Sohn und seinem Hund ein Künstlerdasein bis zu seinem Tod 1998 in seinem Haus in Freiburg-Littenweiler, das zugleich sein Atelier war, mit Blick auf die Dreisam und den Schwarzwald. Seine Aufträge pflegte er fast nur telefonisch abzuwickeln. Wenn er überhaupt Eigenwerbung betrieb, so geschah es fast ausschließlich über die großformatigen Kalender des Waldkircher Faltschachtel-Herstellers Faller, für welche er die Motive – junge Mädchen zumeist – zeichnete und die er an 150 ausgewählte Adressen verschicken ließ. Über gute 40 Jahre – zwischen 1959 und 2003 – waren diese als "Grimms Mädchen" bekannten Blätter heiß begehrt. Doch selbst diese bescheidene Form der Eigenwerbung dokumentiert einmal mehr seine Scheu vor der Öffentlichkeit. Dabei war sie nur zum Teil seiner charakterlichen Veranlagung zuzuschreiben, mindestens ebenso sehr war sie das Ergebnis bitterer Erfahrungen während der Zeit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft. Gerd Grimm war nämlich Halbjude: um keinen Preis aufzufallen, sich zu verstecken, das wurde für ihn bald überlebenswichtig – für einen Künstler seines Formats keine gute Rahmenbedingung.
Überleben als "Halbjude" in der NS-Zeit
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, war Gerd Grimm gerade 22 Jahre alt. Kurz zuvor hatte er sein Kunststudium in Karlsruhe und Berlin – u. a. bei O. W. Hadanck - beendet,
wobei er auch seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Hilde van Gülick (ebenfalls eine begabte Graphikerin und zeit seines Lebens seine unbestechlichste Kritikerin) kennen gelernt hatte. Hoffnungsvoll nahmen sich seine Anfänge als Modezeichner in den frühen dreißiger Jahren aus. Er erhielt erste Aufträge für die Gestaltung von Titelblättern großer Modezeitschriften wie "Silberspiegel", "Die Dame" oder "Elegante Welt". Hinzu kamen Werbezeichnungen für Zigarettenmarken wie Muratti Ariston, Reemtsmas Ova, Scherks Gesichtswasser oder Kupferberg-Sekt. Auch etliche gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin entstandene Titelgrafiken aus dieser Zeit sind dokumentiert, etwa die April-Nummer von 1933 der avantgardistischen Zeitschrift "die neue linie". Doch spätestens nach Verkündung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze ("Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre") im September 1935 wurde dem nunmehr als "Halbjude" abgestempelten Gerd Grimm bewusst, dass es für ihn im nationalsozialistischen Deutschland kaum mehr Entfaltungsmöglichkeiten gab.
Auch wenn es für Juden bis zur Reichskristallnacht im November 1938 noch grundsätzlich möglich war zu arbeiten, so wurden sie aus öffentlichen Ämtern und Funktionen und auch dem künstlerischen Leben zusehends hinausgedrängt. Im Oktober 1935, kurz nach Verkündung der Rassegesetze, versuchte Gerd Grimm, sich in Frankreich (LeHavre/ Paris) eine neue Existenz aufzubauen. Doch schlechte Erfahrungen vor Ort mit einigen Auftraggebern ließen ihn im Sommer nach Berlin zurückkehren. Hier richtete er sich ein Atelier als freier Gebrauchsgrafiker ein. Als gegen Ende der dreißiger Jahre der Druck auf die jüdischen Mitbürger immer mehr zunahm, unternahm Grimm 1938 seinen zweiten Emigrationsversuch – diesmal nach England. Und wieder kehrte er nach Deutschland zurück. Hier gelang es ihm bald nur noch, mithilfe seiner "arischen" Lebensgefährtin und befreundete Verleger, bei Unterdrückung bzw. bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Namenssignatur, seine Arbeiten an Zeitschriften zu vermitteln. In diesen Jahren scheint sich bei Gerd Grimm jene geradezu ängstliche Zurückhaltung in allen Fragen der Selbstdarstellung verfestigt zu haben, die seine Haltung auch in seinen späteren Lebensabschnitten prägen sollte.
Trotz "nicht-arischer" Abstammung wurde Gerd Grimm 1940 zur Wehrmacht eingezogen, wie Bryan Mark Rigg in seinem Buch über "Hitlers jüdischen Soldaten" dokumentiert hat. In der Truppe machte er sich durch sein zeichnerisches Talent bald beliebt. Erst Hitlers Erlass vom Juni 1941, nach dem alle Juden als "wehrunwürdig" endgültig aus dem Militärdienst zu entlassen waren, beendete seine Militärkarriere. Seinen Wehrpass jedoch ließ er sich nicht abnehmen und hütete ihn fortan wie einen Schatz. Nur dieses Dokument konnte ihn vor Zugriffen der Gestapo schützen. Nur so konnte er etwa 1000 Mal per Zug von Berlin nach Freiburg pendeln. Und immer wieder versteckte er sich auch für Tage und Wochen auf einer Schwarzwaldhütte am Schluchsee.
Neue Perspektiven nach dem Krieg - in den USA
Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, gab es für Grimm keine Probleme mehr mit seiner
"halbjüdischen" Abstammung.
Lässt man seine Arbeiten aus dieser Phase Revue passieren,
so dokumentiert sich in ihnen eine ungeheure Produktivität, ja ein geradezu entfesselter Wille, neu anzufangen, in einer offenen Atmosphäre, unter unbeschränkten Arbeitsbedingungen. Jetzt, in der unmittelbaren Nachkriegszeit und noch weit vor der Währungsreform, explodierte sein Talent. Wenn irgendwo in dieser Zeit Gegenbilder von Schönheit, Eleganz, Stil, Urbanität und Internationalität in Deutschland auftauchten, so stammten sie immer wieder von ihm. Allein die Titelblätter der von 1946 bis 1950 bestehenden Modezeitschrift "Die Frau" geben
keinen kleinen Eindruck von seiner stilbildenden Präsenz – ebenso auch seiner Lebensgefährtin Hildegarde van Gülick. Von den bis Ende 1950 etwa 90 erschienenen Titelbildern lieferte Grimm allein 61! Hinzu kamen zahllose Werbegrafiken für die Rückseite – und immer wieder auch Modezeichnungen von Hildegarde van Gülick im Innenteil. Was für eine Dominanz! Manche Titelbilder zeichnen sich durch große Raffinesse aus, etwa wenn Grimm in einer Valmeline-Werbegrafik auf der Rückseite das von ihm gelieferte Titelmotiv im Hintergrund geschickt wiederholt und zitiert!
Und doch meinte Gerd Grimm im Sommer 1950, kurz nach Ausbruch des Korea-Krieges, den Sprung über den Atlantik nach New York machen zu müssen. Hier schien ein Talent wie das seine umso mehr gefragt. Abnehmer für seine Werbegrafiken fanden sich schnell: Haarper’s Bazaar, Vogue, Esquire und andere US-Magazine. Unwillkürlich fragt man sich: Wie wäre es mit Gerd Grimm weitergegangen, wäre er in den USA geblieben? Allein seine Lebensgefährtin hatte Heimweh. Ihr blieb Amerika fremd, und so scheiterte auch Grimms dritter Emigrationsversuch: Ende 1950 kehrte das Paar heim in die Bundesrepublik.
Als Gebrauchsgrafiker im Wirtschaftswunder-Deutschland
Zurück in Deutschland lassen sich die beiden in Freiburg nieder, heiraten, kaufen ein Haus. 1952
wird der von Geburt an behinderte Sohn Sebastian geboren. Vieles beginnt sich zum Besseren zu verändern, wenngleich im Verhältnis zu den USA das Niveau in seinem
Hauptarbeitsgebiet, der Modezeichnung, noch weit hinter dem internationalen Standard zurückbleibt. Gleichviel, Grimm zeichnet für Hersteller von Badeanzügen und Perlon-Strümpfen, für Valmeline, Peek & Cloppenburg, für Parfüms ("Patrizier Lavendel"), für Reemtsma und Black-and-White-Whisky. Auch als Buchillustrator macht er sich bald einen Namen, arbeitet für den Bertelsmann-Verlag oder den Deutschen Bücherbund, gestaltet Vignetten und Umschläge zu Titeln von Boccaccio, Thomas Mann, Thornton Wilder, Franz Werfel oder Arthur Schnitzler. Ganzen Buchprojekten gibt Grimm ihr ästhetisches Profil, etwa der neuen Fischer-Taschenbuchreihe oder den heute vergessenen Bürgers Taschenbüchern.
Über welche Potenziale Grimm als der wohl einzige deutsche Modezeichner von internationalem
Rang verfügt, spricht sich bei alten und neuen Auftraggebern bald herum. Und die bereits erwähnten Faller-Kalender tun ein übriges ihn zu empfehlen. Was
besonders gut ankommt sind immer wieder seine Mädchen. So bleibt es nicht aus, dass sich ab etwa 1960 die Grimmschen Modelle ändern. Der Typ der modebewussten großen Dame von Welt, wie er ihn seit Mitte der vierziger Jahre so gern und oft gezeichnet hatte, er tritt deutlich zurück zugunsten eines jungen, frischen, gleichwohl niemals pubertär oder backfischartig wirkenden Mädchentyps, den man geradewegs als grafische Manifestation des deutschen "Fräuleinwunders" bezeichnen könnte. Woher aber so viele Modelle nehmen? Nun war und ist Freiburg Universitätsstadt, der in jedem Semester Scharen
von neuen Studenten und Studentinnen zufließen. Grimm, dem Zurückgezogenen, ist es allerdings eher lästig, die jungen Damen auf dem Campus anzusprechen, und so übernimmt es Hilde, ihm neue Modelle zuzuführen. Es fällt auf, dass alle "Grimm-Mädchen", so jung sie auch immer waren, etwas ungemein Selbstbewusstes und Aufrechtes an sich haben, dass er ihnen, auch wenn sie ihm Akt stehen, ihre Eigenart, ihre Würde, ja fast ihre Unnahbarkeit ließ.
Über "Grimms Mädchen" konsolidiert sich die Lebenssituation der Familie im Nachkriegsdeutschland allmählich, obgleich die Bedingungen sowohl für die Werbegrafik generell und für Modezeichnung im besonderen spätestens ab den
sechziger Jahren spürbar schlechter werden. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war sie noch unverzichtbares Mittel gewesen, eine modische Idee überhaupt visualisieren zu können. Nun droht der immer stärker aufkommende
Fotorealismus ihr endgültig den Garaus zu machen. Hinzu kommen im Falle Grimms einige Eigentümlichkeiten, die ebenfalls wenig zeitgemäß erscheinen. So hatte er sich in schlechten Zeiten angewöhnt, für seine Tuschzeichnungen immer nur das billigste Saugpostpapier zu nehmen (weil er dessen Eigenschaften für seine Tuschzeichnungen so schätzte). Von dieser Gewohnheit wollte er auch nicht lassen, als es längst wesentlich bessere Papierqualitäten gab. Auch weigerte er sich beharrlich, Zahlen oder Buchstaben zeichnerisch umzusetzen. Und natürlich blieb er zeit seines Lebens ein Einzelgänger – in einer Zeit, wo auch in der Bundesrepublik die Werbeagenturen wie Pilze aus dem Boden schossen, eher ungewöhnlich.
Das Reval-Engagement und seine Folgen
Ende der fünfziger Jahre kommt es für Gerd Grimm zu einer Geschäftsverbindung, die ihm über die folgenden 23 Jahre ein kontinuierliches Einkommen sichern sollte: mit der
Badischen Tabakmanufaktur in Lahr, deren Zigarettenmarke "Reval" er bis in die frühen achtziger Jahre hinein grafisch betreut. Geradezu zwanglos kann er hier die Menschen, die Typen, die Situationen des modernen, großstädtischen Lebens, wie er sie auch in seinen freigrafischen Arbeiten immer wieder einfängt, in die nun geforderten Konsumsituationen umsetzen. Besonders auffällig ist, wie leicht es Grimm fiel (ohne seinem unverwechselbaren Stil untreu zu werden), neue Strömungen und Tendenzen zu adaptieren. Die Reval-Farben Blau und Gelborange erwiesen sich Ende der sechziger Jahre ja als ideale Rahmenvorgabe, Pop-Elemente aufzunehmen. Mädchen und junge Männer mit blauen Gesichtern oder grünen Haaren sind in dieser Phase Grimmschen Schaffens keine Seltenheit. Auch mit Collage-Techniken experimentiert er und nutzt sie als Hintergrund für seine Tuschzeichnungen oder verschränkt beides raffiniert miteinander. Mehrfach werden seine Reval-Plakate unter die besten zehn Arbeiten des Jahres gewählt. Die Fachzeitschrift Gebrauchsgrafik schrieb im April 1963: "Ein leuchtender Stern am Werbehimmel..."
Freilich gab es auch Punkte, über die Gerd Grimm nie mit sich diskutieren ließ, schon weil sie dem innersten Kern seines künstlerischen Selbstverständnisses berührten. So "verbesserte" er seine
Werke nie. Was nicht mit dem ersten Strich schon gelungen war, wurde vernichtet. Das Hingeworfene musste schon das Vollendete sein. Immer wieder scheint es, als ob Grimm, der seine menschlichen Modelle ja letztendlich zeichnerisch festhielt, sich während des Zeichnens zugleich gegen deren Fixierung wehrte: so als wollte er die Bewegungen, die Gesten, den Atem seines Gegenüber, samt aller darin liegenden Flüchtig- und Vergänglichkeiten, wie in einem unendlichen Annäherungsprozess an das Leben selbst, mit aufs Papier übertragen. In der Tat begriff Grimm seine zeichnerischen "Wiedergeburten" auch stets als eine Art von Zeit-Dokumentation. Er war überzeugt, dass sich die Menschen in ihrer Art, sich zu bewegen und zu geben, spätestens alle zwei Jahre ändern. Es ist dieses Verständnis von Zeit und Welt, das ihn auch zu einem Meister der Andeutung, ja des Aussparens und Weglassens werden ließ.
Weltreisen und Menschenbilder
Die durch kontinuierliche "Reval"-Aufträge erreichte wirtschaftliche Sicherheit ermöglichte es Gerd Grimm, ab den frühen sechziger Jahren ausgedehnte Weltreisen zu unternehmen. Immer wieder zog
es ihn in die USA, nach New York, wo er ja schon einmal fünf Monate seines Lebens verbracht hatte. Sein Leben lang faszinierte ihn das Fluidum dieser Metropole besonders: hierher kehrte er, fast wie ein Süchtiger, immer wieder zurück. Aber auch die Kalifornien oder Alaska bereiste er, ebenso den fernen Osten, Bolivien, Peru oder
Südafrika. Und stets schlug sich das Ergebnis einer solchen Reise in Hunderten von Zeichnungen nieder. Mit wenigen Ausnahmen jedoch verschwanden die meisten von ihnen anschließend in seiner Schublade – für ihn eher eine Art Reisetagebuch. Und dennoch gehören sie sicherlich zum beeindruckendsten, was Gerd Grimm geschaffen und hinterlassen hat.
Sie zeigen ihn als Weltbürger und sensibel teilnehmenden Beobachter, und sie belegen, wie sehr er Anteil an den Menschen nahm, und beileibe nicht nur an denen, die auf der Sonnenseite der Lebens
(und des von diesem Teil der Welt produzierten Schönheits- und Modeideals) standen und für die ihn seine Auftraggeber bei der Badischen Tabakmanufaktur nicht schlecht bezahlten. Er registrierte und gestaltete akribisch auch die Schattenseiten des Lebens, wo immer es ihm begegnete. Er hatte, was man den "sozialen Blick" nennt. Er zeichnete Passantenströme in U-Bahn-Schächten, Mülltonnen in Hinterhöfen, Straßenmusiker, Vorort-Bars und Leuchtreklamen, er bannte Elendsquartiere in Bolivien und Silhouetten amerikanischer Monsterstädte aufs Papier, er hielt Ausweglosigkeit und Lethargie schwarzer Jugendlicher in
Johannesburg oder Antigua ebenso fest wie den harten Lebensalltag von Indiofrauen in Bolivien. Alles mit derselben Überzeugung und Wahrhaftigkeit – und wenn es die Kälte und Abgestorbenheit eines gottverdammten Fleckens in Alaska war. Stets faszinierten ihn die menschliche Verhältnisse, zog ihn der Beziehung suchende und eben auch daran immer wieder scheiternde Mensch der Gegenwart an. So war ihm das pulsierende Leben einer Millionenmetropole wie New York immer zugleich Anlass, die Anonymität, Einsamkeit und Sprachlosigkeit seiner Menschen in ihren Haltungen, Gesten und Blicken einzufangen. Gerd Grimm, der im realen Leben so zurückgezogen Lebende, war zeichnerisch und in seiner grafischen Sprache stets ein Weltbürger.
Am 28. Mai 1998 starb Gerd Grimm in Freiburg – gute zehn Jahre später ist er eine Entdeckung, deren Zeit unweigerlich gekommen scheint.